Bisher: kein Anspruch auf eine Entschädigung bei Vertragsende
er bisher Kunden im schweizerischen Vertriebsrecht beraten hat, hatte diese darauf hinzuweisen, dass das Bundesgericht mit seinem vor Jahrzehnten erfolgten Entscheid BGE 88 II 169 (PRAXIS 51 (1962) 127) den Anspruch eines Alleinvertreters (in Deutschland: “Eigenhändler”) auf eine Kundschaftsentschädigung analog zu Art. 418u OR ablehnte. Dabei war auch zu erwähnen, dass eine analoge Anwendung anderer Bestimmungen des Agenturrechts als bloss hinsichtlich der Kündigung des Vertrags vom Bundesgericht zwar nicht völlig ausgeschlossen wurde, bis heute jedoch von der höchsten Instanz keine Fälle zu beurteilen waren (oder zumindest kein Fall publiziert wurde), bei der eine Kundschaftsentschädigung für einen Alleinvertreter geltend gemacht wurde.
Diese Zeiten sind vorbei!
Mit Urteil vom 22. Mai 2008 (BGE 134 III 497 bzw. BGer. 4A_61/2008)1 hat das Bundesgericht eine Berufung zweier Wiederverkäufer (Alleinvertreter) zu beurteilen. Die Alleinvertreter hatten neben anderen Ansprüchen auch eine Kundschaftsentschädigung gefordert nachdem ihre Lieferantin einen langjährigen Alleinvertriebsvertrag gekündigt hatte, mit denen ihnen die Vertriebsrechte für den Verkauf von Parfum in Tschechien und der Slowakei eingeräumt worden waren. Das Bundesgericht kam anders wie den Vorinstanzen zum Schluss, in diesem Fall sei Art. 418u OR analog anzuwenden und wies das Verfahren zur Berechnung der Kundschaftsentschädigung zurück an die Genfer Gerichte.
Beschränkung der Freiheiten der Alleinvertreter.
Das Bundesgericht geht bei seinem Entscheid von einer Lücke und (heute) von einer Mehrheit in der Lehre aus, die eine analoge Anwendung fordere. Der dem Bundesgericht vorgelegte Fall ist nach Ansicht des Gerichts „weit entfernt von der Situation des typischen Alleinvertreters, der im bereits angeführten Fall als unabhängiger Kaufmann beschrieben wird, … (BGE 88 II 170, E. 7).“
Was war ausschlaggebend für den Anspruch der Alleinvertreter auf eine Kundschaftsentschädigung?
Ausschlaggebend waren verschiedene Vertragsklauseln in den Vertriebsverträgen, die bei den heute gebräuchlichen Vertriebsverträgen in den meisten Fällen zum “Repertoire” gehören. So waren die Alleinvertreter in verschiedener Hinsicht in ihren Freiheiten als Unternehmer eingeschränkt. Die Alleinvertreter hatten
- der Lieferantin neue Verkaufsorte zur Genehmigung vorzulegen;
- jährlich eine Mindestmenge abzunehmen;
- einseitige Änderungen der Preise und der Lieferbedingungen zu gewärtigen.
- konnte die Belieferung mit einzelnen Produkten von der Lieferantin jederzeit eingestellt werden;
- hatten die Alleinvertreter jährlich mindestens 10% des Umsatzes für Werbezwecke aufzuwenden;
- hatten sie dauernd einen definierten Bestand an Warenvorräten zu halten;
- mussten sie der Lieferantin monatlich eine ganze Reihe von Berichten und Listen über ihren Umsatz und die Tätigkeit der Konkurrenz vorlegen
- und hatten ihre Bücher und Verzeichnisse offenzulegen.
Das Bundesgericht kam zum Schluss, die Alleinvertreter verfügten damit trotz ihrer rechtlichen Unabhängigkeit nur über eine begrenzte Autonomie. Im weiteren waren die Alleinvertreter verpflichtet, der Lieferantin periodisch die Namen und Adressen der Kunden bekanntzugeben, was vom Bundesgericht wie die Verpflichtung gewertet wurde, den Kundenstamm bei Beendigung des Vertrags auf die Lieferantin zu übertragen. Zudem stand fest, dass die Alleinvertreter nicht eine an sie gebundene persönliche Kundschaft geworben hatten, sondern eine an die Marke des vertriebenen Parfüms gebundene Kundschaft. Das Bundesgericht bezeichnet eine solche Kundschaft als Realkundschaft. Es hält fest, wenn eine solche Realkundschaft geworben worden sei, hätten die Bedingungen des Art. 418u OR praktisch immer als erfüllt zu gelten.
Wie berechnet sich der Anspruch?
Die Kundschaftsentschädigung eines Alleinvertreters ist nach den Grundsätzen des Art. 418u OR zu berechnen. D.h. nur wenn die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen erfüllt sind, steht dem in das Vertriebssystem des Lieferanten eingebundenen Alleinvertreter ein Anspruch zu. Das Bundesgericht weist in seinem Entscheid darauf hin, eine – von der Lieferantin behauptete – Sogwirkung einer Marke schliesse eine Kundschaftsentschädigung nicht aus, die Sogwirkung sei jedoch angemessen zu berücksichtigen wenn die Höhe der Kundschaftsentschädigung bestimmt wird.
Zusammenfassung.
Liegt eine Einbindung des Alleinvertreters im oben umschriebenen Umfang vor, besteht das Risiko – oder die Chance – einer Partei in einem Alleinvertriebsvertrag, dass bei Auflösung des Vertrags eine Kundschaftsentschädigung geschuldet ist. Dies selbst dann, wenn eine solche Entschädigung im Vertrag ausgeschlossen wurde, da Art. 418u OR zwingender Natur ist, was auch bei einer analogen Anwendung gilt.
14. November 2008
Mitgeteilt von Dr. André Thouvenin, Thouvenin Rechtsanwälte, Zürich.
1 Der Entscheid ist in französischer Sprache ergangen, ein leicht gekürzter Text in deutscher Sprache wurde in der Zeitschrift “Die Praxis des Bundesgerichts” publiziert (PRAXIS 98 (2009) Nr. 19).