Wodurch wird der Charakter eines Vertrags als Handelsvertretervertrag bestimmt? Mit dieser Frage hat sich der Oberste Gerichtshof Polens in seinem Urteil vom 4. Oktober 2022 befasst.
Urteil des Obersten Gerichtshofes – Zivilkammer
vom 4. Oktober 2022
(II CSKP 540/22)
Beide – der Kläger (eine natürliche Person) und die beklagte Gesellschaft – betrieben einen Großhandel mit Maschinen und Anlagen. Die Parteien arbeiteten auf der Grundlage einer mündlichen Vereinbarung seit 2008 zusammen; der Kläger war ein Handelsdirektor der Beklagten und war u.a. für die Suche nach Kunden, die Aushandlung von Vertragsbedingungen mit potenziellen Kunden und die Überwachung und Koordinierung der Arbeit anderer Vertriebsmitarbeiter zuständig. Der Kläger erhielt auf der Grundlage einer VAT-Rechnung eine Vergütung, die sich aus einem Festbetrag und einer Provision in Höhe von 3 % des Nettowertes des ausgeführten und vom Vertragspartner bezahlten Vertrags zusammensetzte.
Die Beklagte teilte dem Kläger am 29. September 2016 per E-Mail die Beendigung des Handelsvertretervertrags mit und forderte ihn zu Verhandlungen über die Bedingungen der weiteren Zusammenarbeit auf. Zu diesem Zeitpunkt liefen mehrere nicht abgeschlossene Geschäfte. Im November 2016 wurde die Klägerin von einem ihrer potenziellen Kunden (der Firma “U”) kontaktiert, um ein Treffen zur Durchführung eines möglichen Auftrags vorzuschlagen. Der Kläger teilte dies den Vertretern der Beklagten mit E-Mail vom 26. Januar 2017 mit und bat gleichzeitig um ein Gespräch zur Festlegung der Bedingungen für die weitere Zusammenarbeit. Am 2. Februar 2017 schlug der Geschäftsführer der Beklagten dem Kläger vor, die Angelegenheit des Kunden U. zu betreuen und einen Vertrag mit ihm auszuarbeiten, doch wurde mit der Durchführung dieses Geschäfts schließlich eine andere Person beauftragt, die persönlich an den Verhandlungen mit U. teilnahm. Der Vertrag mit dem Kunden U. wurde von der Beklagten am 17. April 2017 abgeschlossen.
Am 22. November 2017 stellte der Kläger der Beklagten eine Rechnung über mehr als 90 000 PLN für “Tätigkeiten von Agenten im Bereich des Verkaufs von Maschinen, Industrieanlagen, Schiffen und Flugzeugen U. 3%”. Die Beklagte teilte dem Kläger per E-Mail mit, dass sie die ausgestellte Umsatzsteuerrechnung aufgrund der Beendigung der Zusammenarbeit nicht akzeptiere und wies darauf hin, dass der Vertrag zwischen den Parteien vor über einem Jahr ausgelaufen sei.
Der Kläger klagte auf Zahlung dieses Betrags, und das Landgericht Danzig wies die Klage ab. Nach Ansicht des Landgerichts waren die Parteien durch einen Handelsvertretervertrag gebunden, und die langjährige Zusammenarbeit zwischen den Parteien erfüllte alle Voraussetzungen für den Abschluss eines solchen Vertrages. Der Kläger habe im Rahmen seiner Geschäftstätigkeit für die Beklagte laufend als Vermittler Verträge mit Kunden abgeschlossen und die Beklagte habe dem Kläger die vereinbarte Vergütung in Form einer Provision gezahlt. Die Parteien behandelten ihre Zusammenarbeit übereinstimmend als Agenturverhältnis, wie sich aus den titulierten Rechnungen der Klägerin ergab: “Agententätigkeit (…)” und der Inhalt der Kündigungserklärung: “Hiermit kündigen wir den (Agentur-)Kooperationsvertrag (…)”. Die Beklagte hat den Charakter der Beziehung zwischen den Parteien erst im Laufe des Gerichtsverfahrens bestritten und als Rechtsgrundlage der zwischen den Parteien bestehenden Beziehung eine “Kooperationsvereinbarung” angegeben. Die Beklagte hat jedoch keine Beweise vorgelegt, die eine solche Qualifizierung der Vereinbarung bestätigen.
Der Kläger leitete seinen Anspruch aus Artikel 761 § 1 in Verbindung mit Artikel 7611 § 1 des Zivilgesetzbuchs ab. Nach dem Wortlaut dieser Vorschriften kann ein Handelsvertreter Provision für Verträge verlangen, die während der Dauer des Handelsvertretervertrages geschlossen werden, wenn sie durch die Tätigkeit des Handelsvertreters zustande gekommen sind oder wenn sie mit Kunden geschlossen werden, die der Handelsvertreter zuvor für Verträge der gleichen Art gewonnen hat. Gemäß Artikel 7611 § 1 des Zivilgesetzbuchs kann der Handelsvertreter eine Provision für einen Vertrag verlangen, der nach Beendigung des Vertrags geschlossen wurde, wenn der Auftraggeber oder der Handelsvertreter beim Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 761 vor Beendigung des Handelsvertretervertrags ein Angebot zum Abschluss des Vertrags vom Kunden erhalten hat. In diesem Fall handelt es sich um Verträge, die ohne Mitwirkung des Agenten nach Beendigung des Handelsvertretervertrags mit Kunden geschlossen wurden, die der Handelsvertreter zuvor für den Auftraggeber akquiriert hatte.
Die Grenze, die den Anwendungsbereich der Bestimmungen der Artikel 761 und 7611 des Zivilgesetzbuches abgrenzt, ist die “Beendigung des Agenturvertrages”. Diese Formulierung ist als Beendigung (Erlöschen) des Verhältnisses zu verstehen. Es ist egal, welches rechtliche Ereignis zur Beendigung des Handelsvertretervertrags geführt hat (Zeitablauf, Kündigung, Tod einer Partei, Konkurserklärung einer Partei), und ob der Handelsvertreter durch sein Verhalten zur Beendigung des Vertrags beigetragen hat. Es geht um die formale Beendigung des Vertretungsverhältnisses.
Entscheidend ist, dass der Unternehmer oder Handelsvertreter das Angebot des Kunden zum Abschluss des Vertrags vor Beendigung des Handelsvertretervertrags erhält. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem das Angebot dem Unternehmer oder Handelsvertreter zugeht, unabhängig davon, wann der Adressat vom Inhalt des Angebots Kenntnis nehmen kann und ob und wann er tatsächlich davon Kenntnis genommen hat. Im Hinblick auf die Anwendung von Artikel 7611 § 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ebenfalls unerheblich, insbesondere muss er nicht “innerhalb einer angemessenen Frist” nach Beendigung des Handelsvertretervertrags erfolgen.
Das Gericht der ersten Instanz wies darauf hin, dass der Kläger der Kontakt zu “U.” im November 2016 Kontakt aufnahm, während der Agenturvertrag zwischen den Parteien am 29. September 2016 beendet wurde. Der Kläger behauptete, dass die Beklagte ihn am 2. Februar 2017 “beauftragt“ habe, das Geschäft mit “U.” weiterzuführen, aber das Landgericht stellte fest, dass dieser “Auftrag” nicht im Zusammenhang mit dem beendeten Agenturvertrag stand. Die Nachricht, auf die sich der Kläger bezog, enthielt nicht die Bestimmungen eines möglichen “neuen” Agenturvertrags. Ihr Inhalt impliziere weder einen Auftrag an den Kläger, als ständiger Vermittler für die Beklagte Verträge mit Kunden abzuschließen, noch eine Verpflichtung der Beklagten, diese Tätigkeiten zu bezahlen. Darüber hinaus hat die Beklagte dargelegt, dass an der Aushandlung des Vertrages mit “U.” eine andere Person beteiligt war und der Abschluss des Vertrages durch eine andere Person erfolgte. Der Kläger selbst hat bestätigt, dass er weder an den Verhandlungen noch am Abschluss des Vertrags beteiligt war und dass sich seine Rolle auf den E-Mail- und Telefonkontakt mit den Vertretern von “U.” beschränkte, die ihrerseits den Kläger im November 2016 in dieser Angelegenheit kontaktierten. Damit der Kläger eine Provision für die diesbezüglichen Handlungen beanspruchen könnte, hätte der Vertragsabschluss auf einen Vorschlag des Kunden folgen müssen, der dem Auftraggeber oder dem Vertreter vor der Beendigung des Agenturvertrags zugegangen wäre, was nach Ansicht des Bezirksgerichts nicht der Fall war.
Gegen das Urteil des Landgerichts legte der Kläger Berufung ein. Das Berufungsgericht in Gdańsk änderte das Urteil des Gerichts erster Instanz und sprach dem Kläger den geforderten Betrag samt Zinsen von der beklagten Gesellschaft zu.
Das Berufungsgericht schloss sich den Tatsachenfeststellungen des Gerichts der ersten Instanz an, nicht aber der Bewertung des Anspruchs des Klägers. Nach Ansicht des Berufungsgerichts bestand kein Zweifel daran, dass es sich bei dem zwischen den Parteien geschlossenen mündlichen Vertrag um einen auf unbestimmte Zeit geschlossenen Handelsvertretervertrag handelte. Unstreitig war auch, dass die Beklagte dem Kläger am 29. September 2016 eine Erklärung zur Beendigung des Agenturvertrags übersandte und gleichzeitig zu Verhandlungen über die Bedingungen der weiteren Zusammenarbeit aufforderte. Bei der Beurteilung der Wirkung dieser Erklärung sind die Umstände ihres Zustandekommens, einschließlich der Vorerfahrungen der Parteien und des Zwecks der vorgenommenen Handlung, zu berücksichtigen. In der Erklärung der Beklagten wurde die Formulierung “Kündigung” verwendet. Das Gericht stellte fest, dass es keinen Grund gibt, davon auszugehen, dass die Parteien – wie das erstinstanzliche Gericht – den Geschäftsbesorgungsvertrag zum 29. September 2016 gekündigt haben. Die Erklärung der Beklagten enthält keine Elemente, die auf Umstände hinweisen, die eine Beendigung des Vertrags ohne Einhaltung der Kündigungsfristen rechtfertigen würden.
Da es sich bei der Erklärung vom 29. September 2016 um eine Kündigung des Vertrags handelte, war davon auszugehen, dass der Vertrag unter Anwendung der dreimonatigen Kündigungsfrist, die mit dem Eingang der Kündigung beim Kläger zu laufen begann, am 31. Dezember 2016 endete. (Artikel 7641 § 3 KC).
Der Kläger kam im November 2016 und damit während der Kündigungsfrist mit der Fa. U. in Kontakt. Obwohl der Kläger zugab, dass seine Beteiligung an der Durchführung dieses Geschäfts auf die Verbindung der Parteien und den Informationsaustausch für die Vereinbarung eines Treffens und die Aufnahme von Gesprächen im Hinblick auf den Abschluss einer möglichen Vereinbarung hinauslief und dass er nicht an den Verhandlungen oder dem Abschluss der Vereinbarung teilnahm, kann er dennoch eine Provision für die ergriffenen Maßnahmen verlangen, da der Abschluss der Vereinbarung auf einen Vorschlag des Kunden folgte, den der Auftraggeber oder der Agent vor der Beendigung des Agenturvertrags erhalten hatte (Artikel 7611 § 1 des Zivilgesetzbuchs).
Damit waren die Voraussetzungen des Artikels 7611 § 1 des Zivilgesetzbuches für den Anspruch des Klägers auf eine Provision im Zusammenhang mit dem zwischen der Beklagten und U. geschlossenen Vertrag über die Ausübung der Vertretungstätigkeit gegenüber dem von der Beklagten gewonnenen Kunden trotz der Kündigung des Vertrages durch die Beklagte erfüllt. Hinsichtlich der Höhe der Provision hielt das Gericht die Forderung in Höhe des sich aus der Rechnung ergebenden Betrages für gerechtfertigt. Der Kläger hat die Berechnungsgrundlage für die Provision in dieser Höhe angegeben. Die Beklagte hat die Höhe der Provision in ihrer Antwort auf die Klageschrift zwar bestritten, aber keine Beweise vorgelegt.
Das Urteil des Berufungsgerichts wurde von der Beklagten in der Kassationsbeschwerde angefochten. Der Oberste Gerichtshof wies die Kassationsbeschwerde zurück.
Der Oberste Gerichtshof wies u.a. darauf hin, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Berechtigung des Anspruchs des Klägers die Erklärung der Beklagten vom 29. September 2016, deren Abgabe zur Beendigung der 2008 begonnenen Zusammenarbeit zwischen den Parteien führte, richtig ausgelegt habe; verwies auf den Inhalt dieses Dokuments, den situativen Kontext, in dem die Erklärung abgegeben wurde, und den Zweck der von der Beklagten ergriffenen Maßnahme.
Die Auffassung der Gerichte beider Instanzen, dass die Beurteilung des Charakters der Vereinbarung zwischen den Parteien durch die Feststellungen zur Dauer der Vereinbarung, zu ihrem Gegenstand und zur Art der Vergütung des Klägers, die Provisionscharakter hatte, gestützt wurde und dass die Vergütung an den Kläger auf der Grundlage von Rechnungen mit Mehrwertsteuer gezahlt wurde, die den Hinweis enthielten, dass die Rechnungen “für die Tätigkeit von Agenten” ausgestellt wurden, war richtig. Die Beklagte hat erst im Laufe des Verfahrens vor dem Gericht vorgetragen, dass die Parteien eine “Kooperationsvereinbarung” geschlossen hätten, und im Laufe des Verfahrens hat sie keinen Beweis dafür erbracht, dass die Parteien eine solche Vereinbarung getroffen hätten.
Das Berufungsgericht hat richtig eingeschätzt, dass angesichts der Dauer der Vereinbarung eine dreimonatige Kündigungsfrist hätte angenommen werden müssen, die sich aus dem Wortlaut von Artikel 7641 § 1 des Zivilgesetzbuchs ergibt. Das Berufungsgericht ist daher zu Recht zu dem Schluss gekommen, dass der die Parteien bindende Agenturvertrag im Dezember 2016 außer Kraft getreten ist. In Anbetracht der Feststellung, dass der Kläger im November 2016 mit einem Kunden in Kontakt trat, den er zuvor für die von der Beklagten mit diesem Kunden geschlossenen Verträge akquiriert hatte, konnte das Berufungsgericht zu Recht davon ausgehen, dass die “Akquisition” des Kunden durch den Kläger noch während des Bestehens des Handelsvertretervertrags erfolgte.
Das Berufungsgericht betonte, dass die Mitwirkung des Klägers am Zustandekommen des Vertrags mit U. begrenzt war und sich auf die Kontaktaufnahme zwischen den Vertragspartnern und den anfänglichen Informationsaustausch über die Organisation eines Treffens und die Aufnahme von Gesprächen beschränkte, was jedoch ausreichte, um festzustellen, dass der Vertragsabschluss auf einen Vorschlag des Kunden folgte, den der Vertreter vor der Beendigung des Agenturvertrags im Sinne von Artikel 7611 § 1 des Zivilgesetzbuchs erhalten hatte. Dies bildete die Grundlage für den Anspruch des Klägers auf eine Provisionszahlung im Zusammenhang mit dem Abschluss des Vertrags zwischen der Beklagten und U. im Jahr 2017.